Sagen und Geschichten

Die Ährenkönigin

Tief drin im Steinachtal versteckt träumt eine Burgruine. Gras und Moos wächst auf den Trümmern; in den Ritzen und Klunsen des Mauerwerks haben junge Fichten und Gestrüpp Wurzeln geschlagen. Hoch oben zieht der Falke seine Kreise und drunten im Tal singt die Steinach ihr altes Lied. Vergessen und vereinsamt ist die Stätte, wo einst Hörner schallten zur fröhlichen Jagd. Rund um das alte Gemäuer blüht der Bergholunder und mitleidsvoll breiten alte Fichten ihre Äste um die Nordeck. Vor vielen Jahren wanderte einmal ein armer Bursche in der Johannisnacht durchs Steinachtal. Als er in die Nähe dieser alten Burgruine kam, hörte er Lautenspiel und Gesang. Gebannt blieb er stehen und lauschte dieser seltsamen Musik. Kaum war das Lied verklungen und der letzte Lautenton verhallt, schritt eine anmutige Frauengestalt den Burgberg herab und bog in einen Waldpfad ein, auf dem der volle Glanz des Mondes lag. Jung und schön, wie eine Königin, schritt sie daher; auf dem Kopf trug sie ein zierliches Ährenkrönchen und ihr weißes wallendes Gewand war mit goldenen Ähren reich bestickt. In der Hand hielt sie eine Laute. „Die Ährenkönigin", dachte der junge Mann. Er trat hinter einen Baum, staunte und lauschte. Feierlich schritt die Frau an ihm vorüber auf eine Farngruppe zu, vor der drei weiße Lilien blühten. Sie pflückte eine nach der andern und stieg bergan zu einem Felsen. Kaum hatte sie diesen mit einer Lilie berührt, so tat sich ein Felsentor auf, das zu einem herrlichen Schlosse führt. Mit der zweiten Lilie öffnete sie das Schlosstor und die Dritte war der Schlüssel zum Schlosse selbst. Als die Königin verschwunden war, fiel das Felsentor wieder zu. Alles war wie zuvor, feierlich und still. Jetzt erst betrat der junge Mann den Waldsteig und wanderte den Weg, den zuvor die Ährenkönigin gegangen war. Dort, wo die Farne standen, lag eine goldene Ähre. Rasch hob er sie auf und barg sie in seinem Gewand. Da kam ihm eine Geschichte in den Sinn, eine Geschichte, die er als Junge einst gehört hatte. Der Großvater hatte ihm erzählt, dass in der Johannisnacht in der Nähe der Burgruine Nordeck drei weiße Lilien blühen. Nur ein Sonntagskind konnte sie finden und damit ins Schloss der Ährenkönigin gelangen, in dem unermessliche Schätze lägen. Allerdings muss man das Schloss wieder verlassen haben, wenn die Glocken von Stadtsteinach mit dem letzten Schlag die Mitternacht verkünden. Das Erlebnis und diese Geschichte kamen dem jungen Mann nicht mehr aus dem Sinn. Er war ja ein Sonntagskind. Mit Ungeduld watete er auf den nächsten Johannistag. Wieder wanderte er zur Nordeck, die goldene Ähre in der Hand. Lauschig und mondhell war die Nacht und zahllose Sterne blinkten am Himmel. Lange stand er und lauschte. Eben schlug die Glocke die elfte Stunde. Unruhig suchten seine Augen. Da an der gleichen Stelle wie im Vorjahre sah er die Lilien stehen. Er pflückte sie; schritt damit zum Felsen und öffnete ihn. Da hörte er wieder jenes wunderbare Lied. Wie im Traum ging er weiter und weiter . . . die Ährenkönigin erwartete ihn am Schlosstor und führte ihn in ihr Reich, aus dem er nie mehr zurückkam.

Das Kornweiblein von der Nordeck

von Gustav Schmidt:

Ein Bauer von Nordeck ging am Abend des Johannistages auf den Schlossberg, um die Johannisfeuer der Umgebung anzusehen. In der Nähe der Burgruine sah er, vom Mondlicht übergossen, eine Frau stehen. Sie trug ein strohgelbes Kleid, das bis auf die Erde reichte und mit leuchtenden roten Mohnblumen bestickt war. Ihr flachsblondes Haar wurde von einem Netz zusammengehalten. In der Hand  hielt sie einen Johannisblumenstängel mit drei Blüten. Dem Bauern war sofort klar, dass die Frau ein Kornweiblein war und freundlich sprach er es an, und da er nun einmal die Gelegenheit hatte, fragte er sie auch nach der nächsten Getreideernte. Das Kornweiblein sah ihn lange an, dann lud sie ihn ein, mitzukommen. Mit den Johannisblüten strich sie dreimal über die hinter ihr liegende Felswand. Überrascht sah der Bauer, wie sich der Fels plötzlich öffnete und den Blick in eine weite Halle freigab. In langen Reihen standen hier Kasten an Kasten, alle mit Getreide gefüllt. Das Kornweiblein nahm ihn bei der Hand und führte ihn an den Reihen entlang. Dabei erklärte sie ihm: „Seit im Steinachtal Korn gebaut wird, sammeln wir Kornweiblein alle Jahre von jedem Acker einige Körner und heben sie hier in den Truhen auf. So können wir sehen, wer seine Felder sorgfältig bebaut und wer uns wohlgesonnen ist. Ihnen helfen wir dann, indem wir das Unkraut jäten, Sonne, Regen und Wind zu den Äckern schicken und den Bauern so zu einer besseren Ernte verhelfen.“ „Zeitlebens habe ich den Schrezelein und den Kornweiblein ihr Recht gegeben“, antwortete der Bauer, „darf ich nun auch einmal meine Körner sehen?“ Das Kornweiblein erfüllte seine Bitte und führte ihn an einen Kasten, in dem in säuberlichen Schüben Roggen-, Gersten- und Haferkörner lagen. Der überraschte Bauer hätte sich keine bessere Ernte wünschen können. Überschwänglich dankte er der Ährenfrau für ihre Hilfe. Dann aber wurde er von Neugier gepackt und fragte sie: „Sagt mir doch, gibt es denn noch bessere Samenkörner?“ Da nahm das Kornweiblein eine Hand voll Körner aus dem Unterland und gab sie ihm. „Sät diese Körner auf euren besten Acker und gebt uns weiterhin unser Recht!“ Mit diesen Worten drängt sie ihn zum Ausgang, und sobald sie das Tor hinter sich hatten, schob sich der Fels mit einem Schlag zusammen, und das Kornweiblein war verschwunden.

Die geschenkten Körner säte der Bauer im nächsten Frühjahr aus; und daraus wurde im Laufe der Jahre das widerstandsfähige, großkörnige Gebirgssaatgetreide.

Der närrische Ritter

Wer in einer lauen Sommernacht zur Wildrosenzeit im Vollmondschein durchs Steinachtal wandert, der hört von der Nordeck her die traurigen Klänge einer Laute. Man soll nicht stehen bleiben und lauschen, meint der Volksmund. Wer aber trotzdem verweilt, vernimmt, dass das Spiel mit einem schrillen Klang abbricht und bald kreuzt der närrische Ritter still und stumm den Weg des Lauschers und manchem hat diese Begegnung viel Leid gebracht. Es war vor langer, langer Zeit. Ein fahrender Sänger, noch jung an Jahren, schritt fürbass in den Sommermorgen. Frohgemut schlug er die Laute und trällerte ein munteres Lied dazu. So wie die Lerche am Himmel, so jubilierte sein Herz. Flink sprang ihm die Steinach, der Bergbach, entgegen. Sie kam vom Nordwald und er wanderte ihm zu. Bald schatteten Waldwände seinen Weg und nach kurzer Wanderung stand er vor einer Burg auf einer Bergnase im stillen Waldtal: Nordeck. Mit festem Schlag pochte Warmund an das Tor und bat um Einlass. Ritter, Knappen und Frauen waren zur Jagd geritten und erst ums Abendbrot kehrten sie heim. Als alle beim Mahle saßen, rief man den Spielmann in den Saal. Er sang und erzählte. Seine Lieder brachten Freude, seine Mären aber Staunen und Verwunderung in die Einsamkeit dieses Waldtales und man hieß ihn bleiben. Hildegund, des Ritters schöne Tochter, war davon hocherfreut. Sie ließ sich berichten von der Welt da draußen, von den Burgen und Festen der großen Herren und lernte dabei manch fröhliches Lied. Gar bald waren sich beide in Liebe zugetan. Nicht lange aber konnte sie ihre Heimlichkeit verbergen. Als der Ritter davon erfuhr, musste Warmund die Burg verlassen und tiefes Leid blieb in den Herzen der beiden Jungen. Um die Zeit aber, als sich das zutrug, rüstete die christliche Welt zu einem Kreuzzug. Warmund schloss sich den Streitern an und gewann durch Tapferkeit im heiligen Lande Ritterschaft und Adel. Nach vielen Jahren erst kehrte er heim und wieder führte ihn sein Weg in das stille Waldtal droben im Nordwald, nicht mit Laute wie damals, sondern hoch zu Roß, und seine Lenden umgürtete das Schwert. Nun war er dem Ritterfräulein ebenbürtig. Voller Erwartung pocht er an das Burgtor. Der alte Torwart ließ ihn ein und meldete seinem Herrn die Ankunft des fremden Ritters. Mit raschem Schritt und freudigem Herzen betrat er den Saal; schlohweiß und tief gebeugt stand der Burgherr vor ihm. „Ich bin Warmund, der Spielmann; jetzt Ritter, so wie ihr, und werbe um Hildegund". „ Um Hildegund“, nickte der Burgherr versonnen und verstört, er nahm den Ritter bei der Hand und führte ihn ins Burggärtlein. Vor einem Hügel, auf dem ein Rosenstrauch in Blüte stand, blieb er stehen und deutete mit der Hand auf das Grab. „Hier wartet Hildgund auf den Freier “, sagt mit matter Stimme der Burgherr, dann sank er nieder und fand an der Seite seiner Tochter die ewige Ruhe. Dem Ritter aber schwand von Stund an die Sinne. Wirr in Gedanken irrte er jahrein, jahraus um die Burg und immer, wenn im Sommer der Vollmond über dem Tale stand und die wilden Rosen blühten, dann klangen seine Lieder traurig und schaurig durch die Nacht. Eines Morgens aber fand der Brugvogt den „närrischen Ritter“, wie ihn die Leute nannten, still und stumm auf dem Grabhügel, die Laute zerbrochen, die Saiten gesprungen.

Die verwunschene Ritterin

An Johanni hatte ein Häuer von einem Stollen bei Kupferberg ausgedient und wollte sich weiter nördlich eine erträgliche Stelle ausmachen. Er wanderte die Steinach aufwärts. Als er auf der Felsnase über ihr das zerfallene Gemäuer der Burg Nordeck sah, steig er zu ihm empor, um dort mit seiner Wünschelrute nach verborgenen Werten zu suchen. Dabei wurde es Abend in der schwülen Johnacht legte er sich an einer passenden Stelle in der Ruine schlafen. Gesang weckte ihn. Er schlich dahin, woher die Töne kamen. Auf einem Mauerrest saß eine Frau. Sie sang zum Klange einer Zupfgeige davon, was ihr zeitslebens widerfahren war. Eine ganze Weile hörte er ihr zu. Nachdem sie wieder ein Lied beendet hatte, stand sie auf, legte die Zupfgeige auf den Mauerrest und ging auf ihn zu. Über ihr faltiges, graues Gewand wallten ihre langen weißen Haare hinab. „Hier im Gemäuer liegen weder Gold noch Edelsteine", redete sie ihn an, „aber ich will die den ehemaligen Reichtum zeigen. Folge mir!" Im Schein des Vollmondes führte sie ihn eine Wendeltreppe hinab in ein spärlich beleuchtetes Gewölbe voller Kisten und Kästen. Eine der großen Truhen öffnete sie. Es lagen lauter Kieselsteine darin. Davon gab sie ihm eine Hand voll zum Andenken. Er schob sie in seine Rocktasche. „Verwunschen die Burg mit allem Drum und Dran" sagte sie klagend. „Böses bleibt. Wann wird sich der Fluch aufheben?" Tränen in den Augen geleitete sie den Häuer dahin, wo die Zupfgeige lag, hob sie auf, Riss mit dem Finger alle Saiten an, dass es einen Musikklang gab  -  damit verschluckte sie der Boden.

Erschrocken ging der Bergmann zu seinem Felleisen und verbrachte dort sinnend die Nacht.

Man hört, dass er im Wald, weit im Norden, ein vermögender Bergwerksbesitzer geworden sei und dass ihm, neben seinem Fleiß und seiner Tüchtigkeit, die geschenkten Kieselsteine, die zu purem Gold geworden waren, dazu verholfen hatten.

Sage von der Burg Nordeck

Einst, so erzählt die Sage, zog auch der Sohn eines reichen Bamberger Kaufmanns mit viel Ware durch das Tal hinauf. Die Ritter erklärten ihn für gute Beute und im Verlies des mächtigen Turmes mit seinen acht Fuß dicken Mauern trauerte der Jüngling über verlorene Schätze und entrissene Freiheit.

Doch es sollte noch viel schlimmer kommen. Die Bewohner der Burg wurden ihren Gefangenen überdrüssig und beschlossen ihn zu töten. Aber die Köchin, die ihm das Essen brachte, hörte von dem Anschlag der raub- und blutgierigen Gewalthaber, der am kommenden Morgen ausgeführt werden sollte.

Gerührt von dem traurigen Schicksal verriet sie dem Jüngling das Vorhaben der Burgherren und versprach, ihn zu befreien. Im Schutz der Nacht führte die Köchin den Bamberger aus dem Turm und aus der Burg. Beide stiegen ins Tal hinab und erklommen jenseits die steile Grünbürg. Bald hatte man in der Burg ihre Flucht bemerkt und Hunde auf die Spur gehetzt. Als sich die blutgierigen Rüden in wilden Sprüngen den fliehenden Liebenden näherten und die bekannte Stimme der Köchin, aus deren Händen sie oft das Futter erhielten hörten, legten sie sich schmeichelnd zu ihren Füßen nieder.

Nachdem die Befreierin den Geliebten mit ihrem Gewande zugedeckt hatte, jagte sie die Tiere den Berg hinab auf die Burg zurück. Die Flüchtigen erreichten glücklich Bamberg und standen bald vor dem Traualtar.

Der Sänger von der Nordeck

1.   „Macht auf das Tor der Nordeck weit! Heinz Gundolf lässt Euch grüßen, möcht Eurem Herrn die Einsamkeit mit Spiel und Sang versüßen!“ „Willkommen, Spielmann! Trinkt und esst! Es soll Euch nicht gereuen, könnt uns an Gundas Wiegenfest mit Eurer Kunst erfreuen.“

2.   Der Saal voll Licht und Festlichkeit, viel edle Herrn und Frauen. Heinz singt von Lieb und Seligkeit, dass Augen lockend schauen. Doch plötzlich stocken Lied und Blick, Schöngundas Wangen glühen. „Euch, edle Jungfrau, wünsch ich Glück! Ich trink auf Euer Blühen!“

3.   Weil Gunda solche Kunst gefiel, spricht sie zum Vater leise: „O, laßt mich lehren Saitenspiel, üb manche frohe Weise!“ Im Burghof unterm Rosenhag; man lernt die Laute brauchen; dem Gundolf nichts am Spiele lag, doch mehr an Gundas Augen.

4.   Und eines Tags der Vater hört ein heimlich Kichern, Kosen. „Gemeiner Dieb!“ ruft er empört, „soll ich mein Kind verstoßen?“ „Hoch edler Herr!“ spricht Gundolf kühn, „Lieb kennt nicht hoch und nieder! Bevor die Rosen wieder blühn kehr ich als Ritter wieder.“

5.   Drauf rettet Gundolf in dem Krieg des Kaisers Rotbart Leben; der spricht nach bald erkämpftem Sieg mit dankbarem Bestreben: „Weil Ihr so tapfer war und keck beim Kampf in schlimmster Lage, drum seid ein Herr von Roseneck mit diesem Ritterschlage!“

6.   Die Steinach zeiht ein Mann entlang nach langem, schwerem Ritte, dem Herrn von Nordeck gilt sein gang, zu stellen seine Bitte: „Es kommt der Ritter Roseneck der Kaiser mich beleihen. Hoch edeler Herr, ich bitt Euch keck, lasst mich um Gunda freien!“

7.   Zum Rosenhag führt ihn hinab der Alte, um zu zeigen dem Roseneck ein frisches Grab, geschmückt mit Rosenzweigen. „Hier unten“, murmelt er im Schmerz, „könnt ihr um Gunda werben! Die Sehnsucht machte krank ihr Herz, ein Stärkrer Ließ sie sterben.“

8.   Ein wilder Schrei durchgellt das Tal, zum Grab stürzt Gundolf nieder, es fließen Tränen ohne Zahl, nichts weckt die Toten wieder. Gar schauerlich die Leier klingt, das Herz voll bittrer Reue, bis er entseelt aufs Grab hinsinkt, der Toten hält die Treue.